Das Leben als Nr. 1

Als er eines schönen Morgens aufwachte, war er eine Sie. Vorsichtig stand er, nein sie auf, um der neuen Hülle keinen Schaden zuzufügen. Daran musste man sich eben erst einmal gewöhnen. Irgendwie ist das alles so schnell gegangen, diese seltsame Verwandlung.
Doch das innere Empfinden war das selbe geblieben. In seltsamer Weise. Eine halbe viertel Verwandlung? Wie war das nur möglich, so ganz ohne Vorankündigung! Er war ein Mensch gewesen. Wurde Zahl. Sie eben. Sie, die Nummer eins. Wenn er nun kein Mensch mehr war, sollte er dann ganz allein sein auf dieser weiten Welt. Nicht gerade sehr angenehm, sich das vorzustellen. Wirklich nicht. Oder gab es Gleichgesinnte - Nummern? So ging das numerische Leben seinen Lauf und alles hatte sich verändert. Aber nur minimal. Komischer Weise. Nun gut, soviel stand fest, es galt eine Prüfung zu schreiben.
Abschlussprüfungen. Sehr sehr wichtig für das Leben, sagten die Lehrer immer häufiger. Über Rechthaberei lässt sich bekanntlich noch streiten. Glücklicher Weise. Zum Glück war er eine Nummer. Das wirkte gut. Ohne Gefühlbehafteten Namen, was bei ihm eine große Rolle spielte. Nur eine Zahl zwischen Null und Neun. Wie er wohl bestand? Sie meine ich natürlich. Macht das eigentlich einen Unterschied? Ob er sie bestand, oder sie ihn bestand! Beide haben es geschafft, weiß ich heute. Auf dem Heimweg von der Schule bemerkte sie vereinzelt noch andere Artgenossinnen. Kugelnd auf dicken Bäuchen, die Sechs zum Beispiel. Oder auf einem Bein hüpfend. Schließlich gibt es keine Zahl mit zwei Stelzen. Doch sie war etwas Besonderes. Die Nummer eins. So zu sagen der Vorreiter dieser neuen Epoche, die zugleich Stil und Mode wurde. Hüpfend vor Freude über die überstandene Prüfung, knickte sie plötzlich zur Seite und stürzte auf den harten Asphalt. Ihr Bein schien gebrochen zu sein. "Hilfe! Hilfe, mein einzigstes Bein. Es tut so weh", war es weit hin zu hören. Zum Glück war noch ein wohlwollender Mensch in der Nähe, der die 112 wählen konnte. Schade, dass er danach gleich als eine Sieben zu Boden fiel. Er war doch so hübsch gewesen. Sie hätte sich gern noch mit ihm unterhalten. Denn das konnte sie trotz Schmerzen noch. Nun war er ihr gleich. Fast gleich! Denn sie war doch die Nummer eins, nur sie. Der Notarzt kam und sie bekam eine Einsatznummer zugeteilt. Eine große Zahl. Auch ihr Widerstand half nichts. Sie war doch keine 16996! Nein sie war die Nummer eins. Verstand denn das niemand? Scheinbar nicht. Auf der langen Fahrt in Krankenhaus Nummer zwei in diesem dritten Departement wurde ihr bewusst, dass etwas im Gange war. Etwas ganz gewaltiges. Etwas, na ja ich sag mal so -undefinierbares. Was war denn überhaupt los? Bevor sie an diesem Tag aufgewacht war, war sie ein Mensch. Doch irgend jemand - die Gesellschaft? - machte ihn zum Helden. Idol und Idiot der Nationen. Jedenfalls hatte man jetzt einen Status, einen Rang. Die Nummer eins. Man durfte alles. Musste alles. Sollte alles verantworten und konnte sich sogar rechtfertigen. Aber was war sie vor dieser mysteriösen Verwandlung? Durchschnitt, Abschaum, Noblesse? Die Gesellschaft machte es sich einfach. Sie verteilte einfach Nummern. Denn Zahlen haben keine Schicksale, die zu berücksichtigen sind. Haben keine unaussprechlichen, schlimmstenfalls sogar ausländischen Namen. Haben keine Geheimnisse.Man kann sie ohne Umstände sortieren, in Umschläge stecken und im Aktenschrank wieder verschwinden lassen. Und wenn es dann keinen Menschen mehr gibt, der die Zahl Soundso wieder in Herrn Sowieso zurück verwandeln kann, wird es wieder idyllisch ruhig auf der Erde. Weil der Letzte das Licht aus macht und einfach in den Aktenschrank springt. Dann sitzen alle im gemütlichen Dunkel dieser Schränke und genießen das wunderbare Quartier.
Ein weiterer Vorteil zeigt sich schließlich auch darin, dass Zahlen angenehm konform laufen, kein Leben, keine Meinung haben. Unisono und nichts sagend. Stimmen sie mal nicht, dann lässt sich da auch immer ohne großen Aufwand etwas ummodellieren.
Aber was da jemand vergessen hat: Zahlen muss man genau so lernen, wie Namen und Berufe, Krankheiten und einfach wie jeden Buchstaben selbst. Hast du dich schon einmal mit einer Acht unterhalten? Oder mit einer Nummer eins? So einfach ist das gar nicht, weil diese netten Gefährten stumm bleiben. Immer. Sei froh, dass du ein Mensch bist. Das Leben als Nummer ist ein Graus.

(C) Elias Grasemann - www.blaueblume.de