Arbeit und Zeit ergibt Leistung

Es war schon spät, als sie sich verabredeten, sich morgen in aller Frühe wieder hier zu treffen. Genau an dieser Stelle. Punkt sechs Uhr am Morgen. Vergnügt schlenderte Paul nach Hause. Es war schon ziemlich spät und wenn er genauer darüber nachdachte, hatte er morgen eigentlich keine Zeit. Für sie und ihre Gefühle. Ihre Geschichten, die sie ihm erzählen wollte. Er hatte ja soviel vergessen ihr noch zu sagen. Doch da kam ihm die rettende Idee. "Ich treffe sie morgen und verschiebe unser Treffen einfach um ein paar Tage", sagte er zu sich, bevor er erschöpft, aber doch irgendwie glücklich einschlief. Plötzlich sprang er auf, wie von einer Ameise ganz lieb geküsst und schielte auf den Wecker. Selbstverständlich. Er hatte verschlafen. So schnell, wie er konnte, eilte er ihr entgegen, denn sie würde ihn sicher zu Hause aufsuchen. Sie und ihre Pünktlichkeit. Aber genau das liebte er doch so an ihr. Auf seinem Weg musste er einen großen Berg hinauf. Er vollbrachte eine wahre Meisterleistung, denn innerhalb eines halben Augenblicks war er schon oben. Völlig getrieben von den Minuten, die er sich verspätet hatte, eilte er weiter. Jede einzelne von ihnen stach ihn in die Seite, sodass er sich vor Schmerzen fast krümmte. So beschäftigt, wie er mit sich war, bemerkte er sie gar nicht. Gerade sie. Und sie tat genau das selbe: aufgebracht rannte sie dem Haus des Pauls zu. Genau so, als wenn ein Pferd Scheuklappen auf hat und nichts und niemanden sieht.
Als er sie nicht am vereinbarten Platz fand. Es war ein schöner Platz mit Springbrunnen und einem kleinen Park. Da dachte er, sie hätte vielleicht gedacht, dass er gedankenverloren und bedenkenlos ja eigentlich auf Arbeit sein könnte. In seinem Büro als Chef. Im Ledersessel aus echtem Leder, den er so teuer gekauft hatte. ‚Made in China' stand darauf. Auf dem Silikon an der Unterseite des Ledersessels. Und da sie das so hätte denken können, dachte er sich erneut, dass es vielleicht besser wäre, sie dort zu suchen. Dass er ihr dabei zweimal über den Weg lief und sie einmal sogar anrempelt, merkte er gar nicht. Denn der Bericht, dass schon wieder ein Flugzeug verunglückt sei, war sehr interessant. Um Zeit zu sparen musste er neuerdings schon unterwegs lesen. Nur die Zeitung versteht sich. Alles andere raubt nur Zeit und ist schlecht für die Gefühle. Dachte er.
Denn er hatte ja keine Zeit. Und noch so viel Arbeit vor sich. "Diese Gesellschaft ist schlecht", brummte er vor sich hin. "Sie verlangt nur Leistung. Und das ist viel Arbeit in möglichst wenig Zeit." Die vorbeigehenden Leute betrachteten ihn schon aufmerksam, denn hinter Kritik verbirgt sich meist ein böser Kern. Wer weiß, vielleicht ist dieser Mann ja ein Schwerverbrecher?
Paul eilte schließlich von einem Termin und Ort zum nächsten. So schaffte er viel an diesem Tag. Mehr als wenn er sich mit Paula getroffen hätte. Immer darauf bedacht, viel zu leisten. Und auch Paula erging es kaum anders. Tag für Tag. Und bevor sich beide bewusst wurden, wie sehr sie sich doch selbst unter Druck, unter den bösen Leistungsdruck dieser Gesellschaft setzten, waren sie alt und kannten sich nicht mehr.

(C) Elias Grasemann - www.blaueblume.de